Autismus

Mittwoch, 16. April 2008

Der Orangentänzer singt

Lesenswert: "Der Orangentänzer singt" und weitere Gedichte im Autismus Raumschiff.

Mittwoch, 19. März 2008

wer zahlt

Ich muss vorausschicken, dass ich mich selbst frage, ob es sinnvoll ist, sich über den Bericht der Mutter eines autistischen Menschen aus dem Jahre 1973 zu ärgern und dann noch hier im Blog darüber zu schreiben. Aber da ich gerade viel von diesem Zeug für meine Magisterarbeit lesen muss, werde ich doch manches davon hier kommentieren.

Christine erhält Geigenunterricht

Christine hat immer Interesse an Musik gehabt und deshalb im letzten Schuljahr Geigenunterricht erhalten. Sie zeigte dafür eine natürliche Begabung, so daß ihr Musiklehrer uns den Rat gab, den Unterricht zu Hause durch einen Lehrer fortführen zu lassen. Wir fanden jemanden, der Christine und ihre Probleme sehr gut verstand, und so hat sie in den vergangenen zwei Jahren (ausgenommen die Ferienzeiten) je Woche eine halbe Stunde Unterricht bekommen. Die Kosten haben wir bezahlt.

(Hervorhebung hinzugefügt; Margaret Lauder, Ein autistisches Kind: Probleme nach der Schulzeit. In: Wing, J. K., Frühkindlicher Autismus : Klinische, pädagogische und soziale Aspekte, 1973, Beltz Verlag, Weinheim, S.275)

Die Implikation des letzten Satzes ist klar: Launders erwartete, dass jemand anderes, staatliche oder kommunale Behörden, für den Geigenunterricht bezahlen sollten. (Das wird besonders deutlich, wenn man den vorhergehenden Absatzes miteinbezieht, in dem sie (sicherlich zu Recht) das Problem thematisiert, dass es schwierig ist, eine geeignete Berufsausbildung zu finden, und dann endet mit: "Für andere Ausbildungsformen müssen also die Eltern aus eigener Kraft sorgen, entweder ganz oder teilweise auf eigene Kosten." Auf der nächsten Seite erzählt sie, dass sie erreicht hatte, dass eine wöchentliche Töpferstunde für Christine bezahlt wird.)

Geigenunterricht ist (in diesem Fall sicherlich, bei einer halben Stunde Unterricht die Woche) keine Berufsausbildung, sondern eine Freizeitaktivität. Warum nimmt Launders an, jemand solle die Kurse bezahlen? Hätte sie dieselbe Erwartung gehabt, wenn ihre Tochter nicht autistisch wäre?

Ich kenne einige Kinder, die Geigenunterricht erhielten - von ihrer Kindheit an bis mindestens bis zum Abitur (ich weiß nicht, ob sie heute noch Geige spielen). Ihre Eltern haben es bezahlt und ich wette, dass sie nie versucht haben, es über Mittel des Gesundheitsministeriums oder ähnliches bezahlt zu bekommen. Was ist der Unterschied?

Viele Eltern scheinen der Meinung zu sein, dass ihre "Investition" in ihr Kind sich lohnen muss - und wenn es ihnen absehbar erscheint, dass das nicht der Fall ist, soll jemand anders bezahlen.

Das soll nicht falsch verstanden werden: ich finde es wichtig und richtig, dass sogenannter "Mehraufwand" bezahlt wird. Wenn jemand eine Begleitung für den Weg zum Kurs braucht oder wenn es Geld kostet, einen Kurs möglichst barrierefrei durchzuführen, sollte das bezahlt werden. In einigen Regionen gibt es übrigens Programme, um allen Kindern (insbesondere solchen aus sozial schwachen armen Familien) das Spielen eines Musikinstruments zu ermöglichen. Soweit ich mich erinnere, bekommen dabei die Schulen Musikinstrumente zur Verfügung gestellt. Das finde ich sehr gut. Das Ansatzpunkt ist hier nicht ein "Problemkind", sondern die Herstellung von Chancengleichheit. (Nebenbei gesagt frage ich mich, ob es Untersuchungen gibt, welche Leistungen von wem in Anspruch genommen werden, aufgeschlüsselt nach sozialer Klasse. Eine Familie aus Neukölln oder dem Wedding würde vermutlich im Traum nicht auf die Idee kommen, Geigenunterricht für ihr autistisches Kind zu beantragen...)

Ich störe mich sehr daran, dass Eltern autistischer Kinder alles, was das Kind macht, als "Therapie" zu verstehen und als solche abrechnen zu lassen. Launders schreibt über die Töpferstunden ihrer Tochter: "Dieser Unterricht hat für sie großen therapeutischen Wert. Sie wird ruhig und ausgeglichen, wenn sie mit Ton arbeitet, und zeigt in ihrer Arbeit auch viel Geschick und künstlerische Fähigkeiten." (S. 276)

Ich war als Kind in einem Töpferkurs der Volkshochschule und diese banale Aussage hätte man über die meisten der Kinder dort treffen können; und wir waren nicht im geringsten autistisch oder als sonstwie abweichend kategorisiert. So ist es mit Sachen, die man gerne macht, man wird dabei ruhig und ausgeglichen, egal ob es Töpfern oder Malen oder Lego oder Zahlenrätsel sind. Das ist nichts, was spezifisch auf Autist_innen zutrifft, es wird bei ihnen nur anders erklärt: wenn "normale" Menschen unruhig und unausgeglichen sind, sehen sie dafür Gründe. Wenn ein autistischer Mensch unruhig und unausgeglichen ist, sehen sie dafür eine Ursache: Autismus.

Menschliches Verhalten hat aber keine Ursachen, nur Gründe.

Samstag, 15. März 2008

Modediagnose Autismus?

Heute wird immer mal wieder darüber diskutiert, ob Autismus und speziell das Asperger-Syndrom zu "Modediagnosen" geworden sind, weil sie wesentlich häufiger diagnostiziert werden als früher. An dieser Begründung kann man schon erkennen, daß das relativ ist: schon 1958 (!) hat van Krevelen befürchtet, dass Autismus zu Modediagnose geworden ist, was 1973 von J. K. Wing aufgegriffen wird - hier bin ich gerade eben drüber gestolpert:

"Eine Folge des stark zunehmenden Interesses ist vermutlich, daß die Diagnose 'frühkindlicher Autismus' zunehmend häufiger gestellt wird, vielleicht sogar zu einer Modediagnose geworden ist, wie van Krevelen (1958) schon vor längerer Zeit befürchtet hat." (Wing, J. K., Frühkindlicher Autismus : Klinische, pädagogische und soziale Aspekte, 1973, Beltz Verlag, Weinheim, S.283)

Montag, 25. Februar 2008

"Mondkalb, Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen"

Mondkalb, die Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen, hat eine neue Website, auf der man z.B. in der Ausgabe 1/2008 lesen kann, ob man vom Rollstuhl aus effektiv Terror ausüben kann, sowie über Anarchie, Disability Politics und Disability Studies in Kanada, Behinderte und Linke etc.
Wie würden diejenigen, die Autismus-Kultur als "radikale Autistic Pride Ecke" oder, wer sich diese doch recht komplizierte Formulierung nicht merken konnte, einfach als "hirnlose Radikale" bezeichnen, wohl Mondkalb nennen? Vermutlich würden sie den Mantel des Schweigens über dieses beschämende Kapitel in der Geschichte des behinderten Fortschritts breiten, oder, wie meine Oma es tat, als in einer Fernsehsendung ein Typ sagte, er sei schwul, sie würden die Fernbedienung nehmen und kommentarlos umschalten.

Allein wegen dieser "Anzeige" im Mondkalb sollte man unbedingt das PDF ansehen:
"Liebe Zivildienstleistenden. Wir reden nicht nur mit Behinderten. Wir machen sie. Die Bundeswehr."

Geil.

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Mittwoch, 13. Februar 2008

Autismus gibt es nicht.

Seit längerem frage ich mich, was "Autismus" eigentlich ausmacht. Was unterscheidet Autist_innen von Nichtautist_innen? Jegliche Antwort, die zu geben versucht war - Autist_innen können dies nicht, können das nicht, können jenes ganz hervorragend, kommen mit Computern besser zurecht als mit Menschen, lügen nicht, können nicht mobben, haben einen überragenden Gerechtigkeitssinn - jede mögliche Antwort lässt sich leicht widerlegen, wenn man erst mal ein paar "Autist_innen" kennengelernt hat.

Klar, sagen jetzt manche, es ist nicht ein einzelnes Kriterium, sondern eine ganze Reihe davon, von denen man einige erfüllen muss, um "autistisch" zu sein. Ich will hier nicht über die Fragwürdigkeit dieser Kriterien diskutieren und darüber, ob es vielleicht bessere gäbe. Bessere Kriterien zu suchen heißt, nach der Wahrheit über "Autismus" zu suchen. Ich suche keine Wahrheit.

Nehmen wir ein anderes Set an Kriterien - grüne Hosen, Kanu-Fahrerin, Lieblingsessen Pizza Ruccola, Sommerurlaub in Sardinien. So what? Wir würden einige Menschen finden, auf die diese Kritierien zutreffen. Wir können versuchen, herauszufinden, wie viele es sind, und diese Untersuchung "Epidemiologie" nennen. Wir können das nach dem Entdecker benennen - das Colinsche Syndrom. Wir können diese Personengruppe weiter erforschen und versuchen herauszufinden, wie oft sie am Tag aufs Klo gehen oder ob sie ein erfülltes Sexualleben haben.

Wären wir dann klüger?

Neulich habe ich einen Text von Francesca Happe über "Autismus" gelesen, der (aber das nur nebenbei gesagt) nicht "nur" ziemlich pathologisch war, sondern auch unter problematischen Umständen zustandegekommen ist: ausgerechnet "Autism Speaks" und "Cure Autism Now" sponsorten diesen und eine Reihe anderer Artikel in der Nature Neuroscience. Aber darum geht es jetzt mal ausnahmsweise nicht. Grundlage des Artikels war die sogenannte "Triade der Beeinträchtigungen" - Sozialverhalten, Kommunikation, Routinen. Der Inhalt war an sich nicht revolutionär (aber, was ist schon revolutionär?), eigentlich stand nur drin, dass diese Charakteristiken auch einzeln vorkommen und zwar jeweils bei etwa 10% der untersuchten Personen.

Die Intensität ("Schweregrad") ist dabei gleich wie bei Personen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. Die Personen, auf die eine der drei Punkte zutrifft, haben zwar eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch eine der anderen auf sie zutrifft (ca. 30% statt 10%), aber gleichzeitig gibt es viele, auf die nur einer oder auch zwei davon zutreffen. Nicht alle Menschen mit orangenen Hosen fahren Fahrrad.

Dass die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, erstaunt übrigens nicht: wenn man sich bevorzugt in seinem Zimmer aufhält, um sich mit Landkarten zu beschäftigen, hat man in derselben Zeit keine sozialen Kontakte und es ist gut möglich, dass man nicht lernt, wie andere sich in sozialen Netzen verhalten.

Um eines klarzustellen: ich betrachte die "Triade der Beeinträchtigungen" nicht als Definition für Autismus. Keinesfalls. Der Artikel ist auch nichts weiter als eines von vielen Beispielen - für viele muss man in der Zeit vor der Erfindung des Autismus-Konzeptes suchen oder an anderen Orten. Und die meisten dieser Beispiele suchen nach einer besseren, genaueren "Wahrheit" über Autismus. Vielleicht gibt es keine "Wahrheit" hinter dem Spiegel. Das Konzept "Autismus" tut so, als wäre es eine Erklärung (aber wofür?), dabei verschleiert es möglicherweise mehr als es aufdeckt.

Vielleicht gibt es gar keinen Zusammenhang zwischen grünen Hosen, Kanufahren, Pizza Ruccola und Sardinien.

Leider hat dieser Gedanke Francesca Happe nicht davon abgehalten, über notwendige genetische Forschung und "Heilungen" zu spekulieren. Und damit sind wir bei dem Grund, warum es Autismus gibt.

Autist_innen sind eine gesellschaftliche Minderheit, eine marginalisierte Gruppe. Dass diese Gruppe erst kulturell als solche konstruiert wurde, ändert nichts daran, dass die Auswirkungen dieser Konstruktion sehr real - und zum Teil sehr brutal - sind.

Die Festhaltetherapie, ABA, genetische Forschung mit dem Ziel, Autist_innen pränatal zu diagnostizieren und "auszusortieren", das sind nur einige der Folgen der diskursiven Konstruktion von Autismus. Sie sind real. Über Diskurse wird Realität konstruiert. Über Diskurse werden Machtverhältnisse konstruiert.

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Samstag, 9. Februar 2008

Ent/pathologisierung und Unterstützung

Auf der Trans*Tagung Berlin 2007 gab es nach einem Vortrag eine Diskussion darüber, welche (negativen und positiven) Auswirkungen die Pathologisierung von Trans* hat und welche Alternativen es dazu gibt. Das entscheidende Argument der "Befürworter_innen"* der Pathologisierung lautet: "Wenn Transsexualität keine Krankheit mehr ist, bezahlt die Krankenkasse die Hormone und OPs nicht mehr."

Ein Diskussionsteilnehmer wies darauf hin, dass es viele Gruppen gibt, die bestimmte Formen von Unterstützung brauchen und deshalb pathologisiert werden, die sich aber gegen diese Pathologisierung wehren. Zum Beispiel Gehörlose.

Zum Beispiel Autist_innen.

Ein Argument, das oft gegen Konzepte von Autismus als Kultur, gegen Autismus als eine andere Art zu sein oder gegen Autistic Pride hervorgebracht wird, ist: "Aber es gibt Autisten, die brauchen Unterstützung. Denkt auch mal an die." Ausnahmslos alle Menschen, ob autistisch oder nicht, brauchen Unterstützung. Krankheit hat damit nichts zu tun - selbst die Weltgesundheitsorganisation definiert Krankheit über "Leiden", nicht über den Bedarf an Unterstützung.

Leiden Autist_innen unter Autismus? Manche Autist_innen leiden darunter, dass ihre Umwelt Forderungen an sie stellt, die sie nicht erfüllen können (und oft auch nicht wollen), manche Autist_innen leiden darunter, dass ihr Verhalten negativ sanktioniert wird. Manche leiden darunter, dass sie keine Freunde haben oder keinen Arbeitsplatz, manche leiden unter Mobbing. Manche leiden darunter, dass sie nicht ernst genommen werden, manche leiden darunter, dass sie als krank bezeichnet werden.

Was heißt schon Autismus? Eine Art, die Welt wahrzunehmen, eine Art zu sein (vereinfacht gesagt; natürlich nehmen alle Menschen die Welt unterschiedlich und sind alle unterschiedlich). Diese Wahrnehmung der Welt und dieses Sein in der Welt ist aber in ihren Auswirkungen nicht zu trennen von der Welt. Wenn "die Welt", d.h. Menschen einem zu verstehen geben, dass "mit einem etwas nicht stimmt", dass man so, wie man ist, nicht akzeptiert wird, tendieren viele Menschen dazu, diese Zuschreibungen zu akzeptieren. Das ist nicht unverständlich; die anderen sind viele, die Auswirkungen dieser Zuschreibungen haben realen und konkreten Einfluss auf das Leben der einzelnen (vereinzelten) Person.

Eine Autismus-Diagnose heißt in dieser Situation: 'Ja, mit dir stimmt was nicht und es heißt Autismus.' Bei autistischen Erwachsenen löst das oft ein (gefährliches) Gefühl der Erleichterung aus: "Endlich weiß ich, was mit mit los ist und warum ich so viele Probleme habe, so viel Mist erlebt habe." Gefährlich ist vor allem der zweite Teil des Satzes.
Ihr habt keinen Mist erlebt, weil irgend etwas an euch falsch wäre, sondern weil andere Leute euch Mist haben erfahren lassen.

Wenn wir Behinderung als eine kulturell konstruierte Kategorie im Kontext struktureller Diskriminierung und gesellschaftlicher Barrieren sehen, könnte jeder Unterstützung aufgrund einer Situation, in der er_sie sich befindet, bekommen, nicht wegen persönlicher Unzulänglichkeiten. Behinderung sollte als ein Begriff verstanden werden, der nicht über eine Person aussagt, sondern über eine Situation, in der sie sich befindet.

Aber wahrscheinlich versteht das keiner, und die Transen würden nicht mitmachen, weil sie nicht behindert sind, die Autist_innen sind es aber schon, und die Autist_innen würden nicht mitmachen, weil sie nicht behindert sind, die Gehörlosen sind es aber schon, und die Ge...




--
* "Befürworter_innen" steht in Anführungszeichen, weil auch sie nicht alle Trans* als "Störung" o.ä. betrachten, sondern diese Einordnung zum Teil eher als Mittel zum Zweck betrachten.

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Donnerstag, 7. Februar 2008

Schräge Autismus-Theorien II

"Do children with autism have March birthdays?", "Haben Kinder mit Autismus im März Geburtstag?" fragt Autismus-Forscher Christopher Gillberg.

Irgendwie ist das so blöd, dass einem nichts mehr dazu einfällt. Essen Autisten gern saure Gurken? Nein? Ja? Hm... "The possible reasons for this finding are discussed."

Flachkräfte.

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Dienstag, 5. Februar 2008

DSM - Schlachtfeld der Politik

Weil es so schön ist und zum Thema passt, hier noch ein Ausschnitt aus der "Geschichte der Psychiatrie" von Edward Shorter (S.452):

Außerdem wirkte das DSM-III ausgesprochen ethnozentristisch, in einer Disziplin, die Universalität für sich beansprucht, ein gravierender Mangel. Viele der aufgeführten Störungen, wie etwas Anorexia nervosa, waren in anderen Teilen der Welt unbekannt. Man darf getrost davon ausgehen, daß das DSM-III, wäre es in Indien konzipiert worden, einen ausführlichen Abschnitt über Teufelsbesessenheit enthalten hätte. Hatte sich die schöne neue Welt der Psychiatrie womöglich mit ihrer 'Borderline-Persönlichkeitsstörung' - soll heißen: Woody Allans Stadtneurotiker-Symptomen - und ähnlichem, mit der spezifischen kulturellen Pathologie der amerikanischen Ostküste also, in eine Sackgasse manövriert? Ein Kritiker schrieb: 'Borderline- und narzisstischen Persönlichkeiten wird man in Iowa oder Mobile höchst selten begegnen; und in Tanger oder Bukarest wird man sie gar nicht kennen.' 'Kultur' hatte sich in der Vergangenheit als ein gefährlicher Morast für die Psychiatrie erwiesen. Man denke nur an die 'Eierstockhysterie' des 19. Jahrhundert oder an die 'Autointoxikation des Kolons' - eine Idee, auf die nur das westliche Bürgertum im frühen 20. Jahrhundert mit seinen Verdaungsobsessionen hatte verfallen können. Wenn die angeblich so wissenschaftliche Psychiatrie letztlich nichts anderes tat, als die kulturellen Neigungen der nordamerikanischen Mittelschicht zu klassifizieren, mußten ihre Begrifflichkeiten bald ebenso überholt wirken wie die Anstandregeln für viktoranische Damen.

Wenn man weiterliest, erfährt man, wie Homosexualität aus dem Katalog der psychischen Störungen gestrichen wurde, weil das Komitee sich nicht auf einen Begriff dafür einigen konnte, wie die Diagnose "posttraumatische Belastungsstörung" auf Druck von Vietnam-Veteranen und Psychoanalytikern (gegen die Ansicht des Komitees) darin aufgenommen wurde, wie andere "Störungen" infolge von Protesten seitens von Feminist_innen umbenannt und unauffällig in die Kategorie "noch weiter zu erforschende Störungen" verschoben wurde.

Shorters Fazit, S.455:
Angesichts solcher Possen fällt es schwer, offizielle Verlautbarungen der Psychiatrie im Zusammenhang mit sexueller Orientierung, Streß oder dem weiblichen Zyklus noch ernst zu nehmen. Offenbar können solche Fragen nach Belieben pathologisiert und wieder entpathologisiert werden, ganz wie die Mehrheit es wünscht oder wie die jeweiligen Interessen es durchsetzen können.

Shorters Buch hat Positives und Negatives, viele spannende Informationen, intelligente Analysen und an anderen Stellen doch wieder Ansichten und Schlußfolgerungen, bei denen es mit übel wird (a la 'Und dann gab es endlich Medikamente dagegen. Sie haben zwar nicht gewirkt, und sie hatten schwere Nebenwirkungen, aber immerhin gab es Medikamente'). Spannend ist es allemal. Deshalb lest selbst. Und denkt selbst.

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Sonntag, 3. Februar 2008

Diagnostische Vielfalt

Weil ich auf einen Ausschnitt aus der „Geschichte der Psychiatrie” von Edward Shorter (S.443) gestoßen bin, den ich kurios und interessant genug finde, um ihn hier zu zitieren (wenngleich auch Shorter in seiner Analyse leider innerhalb der psychiatrischen Disziplin und ihrer Perspektive verbleibt), knüpfe ich hier an das Thema des vorhergehenden Postings an:

Ein und derselbe Patient konnte in dem einen Land eine völlig andere Diagnose zu hören bekommen als in einem anderen. Nehmen wir zum Beispiel la bouffée délirante ('Wahnsinnsanfall') aus Frankreich - eine Diagnose, für die es nirgends irgendwo sonst ein Äquivalent gab. 'Die Engländer nennen nahezu jede Art von emotionalem Problem 'Neurose'', schrieb der große Psychiatriehistoriker Henry Ellenberger Mitte der fünfziger Jahre. 'Die Franzosen wiederum gehen sehr freizügig mit der Diagnose Schwachsinn um.' Und was die Schweizer anbelangt, so beklagen die Franzosen, daß dort 'bei 90 Prozent Psychotikern und 50 Prozent Normalen' Schizophrenie diagnostiziert werde'.

Aber niemand traf die Diagnose Schizophrenie häufiger als die Amerikaner. Sie war das große Faible der amerikanischen Psychiatrie. In einer Studie etwa wurde 46 amerikanischen und 205 britischen Psychiatern ein Video über 'Patient F.' vorgeführt, einem jungen Mann aus Brooklyn, der unter einer hysterischen Lähmung seines Arms und heftigen Stimmungsschwankungen litt, die man seinem Alkoholmißbrauch zuschrieb. 69 Prozent der Amerikaner, aber nur zwei Prozent der Briten diagnostizierten 'Schizophrenie'.


Shorter kommentiert dies: Solche nationalen Unterschiede auf der internationalen Bühne waren höchst unprofessionell und peinlich, denn die vermittelten den Eindruck, als sei die Psychiatrie wesentlich weniger an Wissenschaftlichkeit als an nationalen Traditionen orientiert und als sei sie eher Teil der Folklore denn der Medizin.

Tja, ist sie das denn nicht? Wohlgemerkt scheint es die Psychiater nicht zu stören, das sie unterschiedliche (aus ihrer Sicht zwangsläufig falsche) Diagnosen stellen, sondern dass sie sich auf "internationaler Bühne" blamieren. Da fragt man sich, welches Stück hier gespielt wird und ob es eine Komödie oder eine Tragödie ist.

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Dienstag, 29. Januar 2008

Schräge Autismus-Theorien

Ich schreibe (endlich) an meiner Magisterarbeit und finde das Thema spannender denn je. Es ist unglaublich, was man so an abstrusen Autismus-Theorien findet... was haltet ihr davon: Autisten seien hyperintelligente Mutanten, die ihre soziale Prägungsphase aufgrund ihrer superschnellen neurologischen Entwicklung im Mutterleib erfahren? Argh! Das ist kein Witz, sondern ein wissenschaftlicher Artikel, der 1971 in der Psychological Review erschien. Nachzulesen bei Neurodiversity.

Ansonsten genieße ich es, endlich wieder produktiv arbeiten zu können, sei es an der Autismus-Kultur Seite oder an geschäftlichen Projekten; oder es einfach kuschlig, entspannt und gemütlich zu haben:

katzen
Bild von re84, Photocase

Autismus

Akzeptanz statt Heilung!

Unterwegs ...
... auf der Suche nach dem wahren Leben. Vielleicht...
Colin Müller - 25. Mär, 16:48
Autismus gibt...
Seit längerem frage ich mich, was "Autismus" eigentlich...
reallife - 27. Feb, 00:01
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reallife - 26. Feb, 23:57
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reallife - 16. Apr, 19:24
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Hier ist ein Artikel zum APD: Autismus Feiertag: Autistic...
reallife - 5. Apr, 02:35
wer zahlt
Ich muss vorausschicken, dass ich mich selbst frage,...
reallife - 15. Mär, 19:05
Modediagnose...
Heute wird immer mal wieder darüber diskutiert, ob...
reallife - 15. Mär, 18:59
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Weil es so schön ist und zum Thema passt, hier noch...
reallife - 15. Mär, 05:27

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Und: Interessantes über Rainer Döhle im Artikel "Rechtsradikale in der deutschen Wikipedia"

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zuletzt aktualisiert: 25. Mär, 17:16

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