Autismus gibt es nicht.
Seit längerem frage ich mich, was "Autismus" eigentlich ausmacht. Was unterscheidet Autist_innen von Nichtautist_innen? Jegliche Antwort, die zu geben versucht war - Autist_innen können dies nicht, können das nicht, können jenes ganz hervorragend, kommen mit Computern besser zurecht als mit Menschen, lügen nicht, können nicht mobben, haben einen überragenden Gerechtigkeitssinn - jede mögliche Antwort lässt sich leicht widerlegen, wenn man erst mal ein paar "Autist_innen" kennengelernt hat.
Klar, sagen jetzt manche, es ist nicht ein einzelnes Kriterium, sondern eine ganze Reihe davon, von denen man einige erfüllen muss, um "autistisch" zu sein. Ich will hier nicht über die Fragwürdigkeit dieser Kriterien diskutieren und darüber, ob es vielleicht bessere gäbe. Bessere Kriterien zu suchen heißt, nach der Wahrheit über "Autismus" zu suchen. Ich suche keine Wahrheit.
Nehmen wir ein anderes Set an Kriterien - grüne Hosen, Kanu-Fahrerin, Lieblingsessen Pizza Ruccola, Sommerurlaub in Sardinien. So what? Wir würden einige Menschen finden, auf die diese Kritierien zutreffen. Wir können versuchen, herauszufinden, wie viele es sind, und diese Untersuchung "Epidemiologie" nennen. Wir können das nach dem Entdecker benennen - das Colinsche Syndrom. Wir können diese Personengruppe weiter erforschen und versuchen herauszufinden, wie oft sie am Tag aufs Klo gehen oder ob sie ein erfülltes Sexualleben haben.
Wären wir dann klüger?
Neulich habe ich einen Text von Francesca Happe über "Autismus" gelesen, der (aber das nur nebenbei gesagt) nicht "nur" ziemlich pathologisch war, sondern auch unter problematischen Umständen zustandegekommen ist: ausgerechnet "Autism Speaks" und "Cure Autism Now" sponsorten diesen und eine Reihe anderer Artikel in der Nature Neuroscience. Aber darum geht es jetzt mal ausnahmsweise nicht. Grundlage des Artikels war die sogenannte "Triade der Beeinträchtigungen" - Sozialverhalten, Kommunikation, Routinen. Der Inhalt war an sich nicht revolutionär (aber, was ist schon revolutionär?), eigentlich stand nur drin, dass diese Charakteristiken auch einzeln vorkommen und zwar jeweils bei etwa 10% der untersuchten Personen.
Die Intensität ("Schweregrad") ist dabei gleich wie bei Personen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. Die Personen, auf die eine der drei Punkte zutrifft, haben zwar eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch eine der anderen auf sie zutrifft (ca. 30% statt 10%), aber gleichzeitig gibt es viele, auf die nur einer oder auch zwei davon zutreffen. Nicht alle Menschen mit orangenen Hosen fahren Fahrrad.
Dass die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, erstaunt übrigens nicht: wenn man sich bevorzugt in seinem Zimmer aufhält, um sich mit Landkarten zu beschäftigen, hat man in derselben Zeit keine sozialen Kontakte und es ist gut möglich, dass man nicht lernt, wie andere sich in sozialen Netzen verhalten.
Um eines klarzustellen: ich betrachte die "Triade der Beeinträchtigungen" nicht als Definition für Autismus. Keinesfalls. Der Artikel ist auch nichts weiter als eines von vielen Beispielen - für viele muss man in der Zeit vor der Erfindung des Autismus-Konzeptes suchen oder an anderen Orten. Und die meisten dieser Beispiele suchen nach einer besseren, genaueren "Wahrheit" über Autismus. Vielleicht gibt es keine "Wahrheit" hinter dem Spiegel. Das Konzept "Autismus" tut so, als wäre es eine Erklärung (aber wofür?), dabei verschleiert es möglicherweise mehr als es aufdeckt.
Vielleicht gibt es gar keinen Zusammenhang zwischen grünen Hosen, Kanufahren, Pizza Ruccola und Sardinien.
Leider hat dieser Gedanke Francesca Happe nicht davon abgehalten, über notwendige genetische Forschung und "Heilungen" zu spekulieren. Und damit sind wir bei dem Grund, warum es Autismus gibt.
Autist_innen sind eine gesellschaftliche Minderheit, eine marginalisierte Gruppe. Dass diese Gruppe erst kulturell als solche konstruiert wurde, ändert nichts daran, dass die Auswirkungen dieser Konstruktion sehr real - und zum Teil sehr brutal - sind.
Die Festhaltetherapie, ABA, genetische Forschung mit dem Ziel, Autist_innen pränatal zu diagnostizieren und "auszusortieren", das sind nur einige der Folgen der diskursiven Konstruktion von Autismus. Sie sind real. Über Diskurse wird Realität konstruiert. Über Diskurse werden Machtverhältnisse konstruiert.
Klar, sagen jetzt manche, es ist nicht ein einzelnes Kriterium, sondern eine ganze Reihe davon, von denen man einige erfüllen muss, um "autistisch" zu sein. Ich will hier nicht über die Fragwürdigkeit dieser Kriterien diskutieren und darüber, ob es vielleicht bessere gäbe. Bessere Kriterien zu suchen heißt, nach der Wahrheit über "Autismus" zu suchen. Ich suche keine Wahrheit.
Nehmen wir ein anderes Set an Kriterien - grüne Hosen, Kanu-Fahrerin, Lieblingsessen Pizza Ruccola, Sommerurlaub in Sardinien. So what? Wir würden einige Menschen finden, auf die diese Kritierien zutreffen. Wir können versuchen, herauszufinden, wie viele es sind, und diese Untersuchung "Epidemiologie" nennen. Wir können das nach dem Entdecker benennen - das Colinsche Syndrom. Wir können diese Personengruppe weiter erforschen und versuchen herauszufinden, wie oft sie am Tag aufs Klo gehen oder ob sie ein erfülltes Sexualleben haben.
Wären wir dann klüger?
Neulich habe ich einen Text von Francesca Happe über "Autismus" gelesen, der (aber das nur nebenbei gesagt) nicht "nur" ziemlich pathologisch war, sondern auch unter problematischen Umständen zustandegekommen ist: ausgerechnet "Autism Speaks" und "Cure Autism Now" sponsorten diesen und eine Reihe anderer Artikel in der Nature Neuroscience. Aber darum geht es jetzt mal ausnahmsweise nicht. Grundlage des Artikels war die sogenannte "Triade der Beeinträchtigungen" - Sozialverhalten, Kommunikation, Routinen. Der Inhalt war an sich nicht revolutionär (aber, was ist schon revolutionär?), eigentlich stand nur drin, dass diese Charakteristiken auch einzeln vorkommen und zwar jeweils bei etwa 10% der untersuchten Personen.
Die Intensität ("Schweregrad") ist dabei gleich wie bei Personen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. Die Personen, auf die eine der drei Punkte zutrifft, haben zwar eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch eine der anderen auf sie zutrifft (ca. 30% statt 10%), aber gleichzeitig gibt es viele, auf die nur einer oder auch zwei davon zutreffen. Nicht alle Menschen mit orangenen Hosen fahren Fahrrad.
Dass die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, erstaunt übrigens nicht: wenn man sich bevorzugt in seinem Zimmer aufhält, um sich mit Landkarten zu beschäftigen, hat man in derselben Zeit keine sozialen Kontakte und es ist gut möglich, dass man nicht lernt, wie andere sich in sozialen Netzen verhalten.
Um eines klarzustellen: ich betrachte die "Triade der Beeinträchtigungen" nicht als Definition für Autismus. Keinesfalls. Der Artikel ist auch nichts weiter als eines von vielen Beispielen - für viele muss man in der Zeit vor der Erfindung des Autismus-Konzeptes suchen oder an anderen Orten. Und die meisten dieser Beispiele suchen nach einer besseren, genaueren "Wahrheit" über Autismus. Vielleicht gibt es keine "Wahrheit" hinter dem Spiegel. Das Konzept "Autismus" tut so, als wäre es eine Erklärung (aber wofür?), dabei verschleiert es möglicherweise mehr als es aufdeckt.
Vielleicht gibt es gar keinen Zusammenhang zwischen grünen Hosen, Kanufahren, Pizza Ruccola und Sardinien.
Leider hat dieser Gedanke Francesca Happe nicht davon abgehalten, über notwendige genetische Forschung und "Heilungen" zu spekulieren. Und damit sind wir bei dem Grund, warum es Autismus gibt.
Autist_innen sind eine gesellschaftliche Minderheit, eine marginalisierte Gruppe. Dass diese Gruppe erst kulturell als solche konstruiert wurde, ändert nichts daran, dass die Auswirkungen dieser Konstruktion sehr real - und zum Teil sehr brutal - sind.
Die Festhaltetherapie, ABA, genetische Forschung mit dem Ziel, Autist_innen pränatal zu diagnostizieren und "auszusortieren", das sind nur einige der Folgen der diskursiven Konstruktion von Autismus. Sie sind real. Über Diskurse wird Realität konstruiert. Über Diskurse werden Machtverhältnisse konstruiert.
reallife - 13. Feb, 03:03