Mittwoch, 19. März 2008

wer zahlt

Ich muss vorausschicken, dass ich mich selbst frage, ob es sinnvoll ist, sich über den Bericht der Mutter eines autistischen Menschen aus dem Jahre 1973 zu ärgern und dann noch hier im Blog darüber zu schreiben. Aber da ich gerade viel von diesem Zeug für meine Magisterarbeit lesen muss, werde ich doch manches davon hier kommentieren.

Christine erhält Geigenunterricht

Christine hat immer Interesse an Musik gehabt und deshalb im letzten Schuljahr Geigenunterricht erhalten. Sie zeigte dafür eine natürliche Begabung, so daß ihr Musiklehrer uns den Rat gab, den Unterricht zu Hause durch einen Lehrer fortführen zu lassen. Wir fanden jemanden, der Christine und ihre Probleme sehr gut verstand, und so hat sie in den vergangenen zwei Jahren (ausgenommen die Ferienzeiten) je Woche eine halbe Stunde Unterricht bekommen. Die Kosten haben wir bezahlt.

(Hervorhebung hinzugefügt; Margaret Lauder, Ein autistisches Kind: Probleme nach der Schulzeit. In: Wing, J. K., Frühkindlicher Autismus : Klinische, pädagogische und soziale Aspekte, 1973, Beltz Verlag, Weinheim, S.275)

Die Implikation des letzten Satzes ist klar: Launders erwartete, dass jemand anderes, staatliche oder kommunale Behörden, für den Geigenunterricht bezahlen sollten. (Das wird besonders deutlich, wenn man den vorhergehenden Absatzes miteinbezieht, in dem sie (sicherlich zu Recht) das Problem thematisiert, dass es schwierig ist, eine geeignete Berufsausbildung zu finden, und dann endet mit: "Für andere Ausbildungsformen müssen also die Eltern aus eigener Kraft sorgen, entweder ganz oder teilweise auf eigene Kosten." Auf der nächsten Seite erzählt sie, dass sie erreicht hatte, dass eine wöchentliche Töpferstunde für Christine bezahlt wird.)

Geigenunterricht ist (in diesem Fall sicherlich, bei einer halben Stunde Unterricht die Woche) keine Berufsausbildung, sondern eine Freizeitaktivität. Warum nimmt Launders an, jemand solle die Kurse bezahlen? Hätte sie dieselbe Erwartung gehabt, wenn ihre Tochter nicht autistisch wäre?

Ich kenne einige Kinder, die Geigenunterricht erhielten - von ihrer Kindheit an bis mindestens bis zum Abitur (ich weiß nicht, ob sie heute noch Geige spielen). Ihre Eltern haben es bezahlt und ich wette, dass sie nie versucht haben, es über Mittel des Gesundheitsministeriums oder ähnliches bezahlt zu bekommen. Was ist der Unterschied?

Viele Eltern scheinen der Meinung zu sein, dass ihre "Investition" in ihr Kind sich lohnen muss - und wenn es ihnen absehbar erscheint, dass das nicht der Fall ist, soll jemand anders bezahlen.

Das soll nicht falsch verstanden werden: ich finde es wichtig und richtig, dass sogenannter "Mehraufwand" bezahlt wird. Wenn jemand eine Begleitung für den Weg zum Kurs braucht oder wenn es Geld kostet, einen Kurs möglichst barrierefrei durchzuführen, sollte das bezahlt werden. In einigen Regionen gibt es übrigens Programme, um allen Kindern (insbesondere solchen aus sozial schwachen armen Familien) das Spielen eines Musikinstruments zu ermöglichen. Soweit ich mich erinnere, bekommen dabei die Schulen Musikinstrumente zur Verfügung gestellt. Das finde ich sehr gut. Das Ansatzpunkt ist hier nicht ein "Problemkind", sondern die Herstellung von Chancengleichheit. (Nebenbei gesagt frage ich mich, ob es Untersuchungen gibt, welche Leistungen von wem in Anspruch genommen werden, aufgeschlüsselt nach sozialer Klasse. Eine Familie aus Neukölln oder dem Wedding würde vermutlich im Traum nicht auf die Idee kommen, Geigenunterricht für ihr autistisches Kind zu beantragen...)

Ich störe mich sehr daran, dass Eltern autistischer Kinder alles, was das Kind macht, als "Therapie" zu verstehen und als solche abrechnen zu lassen. Launders schreibt über die Töpferstunden ihrer Tochter: "Dieser Unterricht hat für sie großen therapeutischen Wert. Sie wird ruhig und ausgeglichen, wenn sie mit Ton arbeitet, und zeigt in ihrer Arbeit auch viel Geschick und künstlerische Fähigkeiten." (S. 276)

Ich war als Kind in einem Töpferkurs der Volkshochschule und diese banale Aussage hätte man über die meisten der Kinder dort treffen können; und wir waren nicht im geringsten autistisch oder als sonstwie abweichend kategorisiert. So ist es mit Sachen, die man gerne macht, man wird dabei ruhig und ausgeglichen, egal ob es Töpfern oder Malen oder Lego oder Zahlenrätsel sind. Das ist nichts, was spezifisch auf Autist_innen zutrifft, es wird bei ihnen nur anders erklärt: wenn "normale" Menschen unruhig und unausgeglichen sind, sehen sie dafür Gründe. Wenn ein autistischer Mensch unruhig und unausgeglichen ist, sehen sie dafür eine Ursache: Autismus.

Menschliches Verhalten hat aber keine Ursachen, nur Gründe.

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zuletzt aktualisiert: 25. Mär, 17:16

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